Im Folgenden lesen Sie das Interview mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel für „Yedioth Ahronot“ vom 2. Oktober 2015
F: Am 12 Mai 1965, Tag der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der BDR und Israel, waren Sie selbst in der DDR fast 11 Jahre alt. Haben Sie damals etwas von der historischen Dimension dieses Tages mitbekommen und wie beurteilen Sie diese Entwicklung heute?
A: Mit fast 11 Jahren und in der damaligen DDR lebend habe ich die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen noch nicht verfolgt. Als ich dann etwas älter war, wurde mir klar, dass die DDR anders als die Bundesrepublik keine Beziehungen zu Israel hatte. In meiner Zeit als Physikerin habe ich darunter gelitten, dass wir Veröffentlichungen israelischer Wissenschaftler nicht direkt bestellen konnten. Wir hatten in der DDR keinen Zugang zu Kopiergeräten. So bat ich amerikanische Wissenschaftler, mir Kopien der Arbeiten israelischer Kollegen zu schicken. Ich war froh, dass nach dem Fall der Mauer die dann frei gewählte Volkskammer sich 1990 gleich daran machte, Beziehungen zu Israel aufzunehmen.
F. Am 12. Mai 2015, 50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, schrieben Kommentatoren in Deutschland über „Freundschaft in Gefahr“, „deutsch-israelische Asymmetrien“, „das Verschwinden des deutschen Verständnis für Israel“. Sogar der Bundespräsident, Herr Gauck, hat seine Sorge darüber geäußert, dass fast die Hälfte der Deutschen eine schlechte Meinung über Israel haben. Teilen Sie diese Sorge, spüren Sie auch eine Gefahr, und was kann man dagegen tun?
A: Gute Beziehungen muss man ständig pflegen, man muss immer wieder miteinander reden, gerade auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist. Ich habe zu Beginn meiner Amtszeit die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen ins Leben gerufen, die nächste Woche zum sechsten Mal stattfinden. Es ist eine Gelegenheit, sehr konkret über die ganze Breite unserer Beziehungen zu sprechen: zum Beispiel über Wissenschaftskooperation, kulturelle Zusammenarbeit, über Jugendaustausch und die Entwicklungsprojekte, die wir in einigen Ländern gemeinsam durchführen. Wir tun das im Bewusstsein der immer währenden Verantwortung Deutschlands für den Zivilisationsbruch der Shoah und gemeinsamer Werte und Interessen. Israel hat auf vielen Gebieten weltweit eine herausragende Stellung, ich nenne nur die Start Up-Kultur oder wie schon gesagt die Forschung, wo es ja eine sehr intensive Zusammenarbeit mit der deutschen Wissenschaft gibt. Die deutsch-israelischen Beziehungen entwickeln sich ständig weiter. Immer wieder wird dabei klar: Israel ist die einzige wirkliche Demokratie im Nahen Osten. Das zählt, auch wenn wir in einigen Fragen der Siedlungspolitik nicht einig sind und uns wünschen würden, dass auf eine Zwei-Staaten-Lösung hin verhandelt wird.
F: Wo sehen Sie genau die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Israel?
A: In erster Linie verbinden uns die Werte, die Deutschland und Israel in der Welt vertreten – Freiheit, Demokratie, die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich sehe Gemeinsamkeiten in vielen Projekten und auch in unserer Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungspolitik. Aber das wichtigste, das uns eint, ist sicher das Grundverständnis von der Würde des Einzelnen und seinem Recht auf Entfaltung. Das ist es, was für mich zählt.
F: Nach mehreren Umfragen, 40 bis über 60% der Deutschen vergleichen Israels Umgang mit den Palästinensern mit dem Verhalten der Nazis gegenüber den Juden. Wie kommen wir dazu und was halten Sie von diesem Vergleich?
A: Der Holocaust als der systematische Versuch, die Juden zu vernichten, ist ein singuläres Verbrechen. Ein solcher Vergleich ist völlig abwegig und verbietet sich.
F: Wo liegen, Ihrer Meinung nach, die Grenzen zwischen einer legitimen Kritik mancher israelischen Aktionen und Antisemitismus?
A: Die Grenzen liegen da, wo Kritik missbraucht wird, um ein ganzes Volk oder eine Gruppe von Menschen zu delegitimieren Ich wehre mich auch in anderen Zusammenhängen grundsätzlich gegen Pauschalurteile, die einem ganzen Volk bestimmte – meist negative – Charakterzüge zuschreiben. Jeder Mensch ist einzigartig. Es gibt überall Gute und Schlechte, Kluge und Dumme, Nette und Unsympathische, aber es ist und bleibt jeder Einzelne ein Mensch mit seiner unantastbaren Würde
F: In Europa, aber auch in Amerika, ruft eine Bewegung immer stärker zum Boykott von Israel auf. Die amerikanische Administration hat im letzten Sommer ein anti Israelboykott-Gesetz in Kraft gesetzt. Sollten es anti „Israelboykott“ Gesetze auch in Deutschland und in der EU geben?
A: In Handelsfragen ist es die Europäische Union, die oft die Richtung vorgibt. Wollen wir etwas ändern, brauchen wir dafür Mehrheiten. So gibt es auf EU-Ebene im Rahmen des Verbraucherschutzes Beschlüsse, die eine Kennzeichnung von Produkten aus bestimmten Gebieten fordern. Mit Boykott hat dies aber nichts zu tun. Von Boykottaufrufen halte ich auch grundsätzlich nichts.
F: Eine deutsch-israelische Schulbuchkommission veröffentlichte vor kurzem eine Studie, wonach das Bild Israels in deutschen Schulbüchern sehr negativ dargestellt wird. „Erstaunlich ist“, schreibt die Kommission, „dass sich am dem zentralem Befund der ersten deutsch-israelischen Kommission seit 1985 nichts geändert hat“. Wie kann man diese Situation ändern?
A: Zunächst einmal ist es gut, dass wir diese deutsch-israelische Schulbuchkommission haben, die auf solche Dinge achtet. Wenn der Befund dieser Studie stimmt, dann können wir etwas verändern, indem wir gemeinsam Schulbuchtexte verfassen, die auch die israelische Perspektive einbringen. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit deutsch-französischen Geschichtsbüchern gemacht. Es hat lange gedauert, bis man sich auf eine solche gemeinsame Sicht der Geschichte verständigt hat. Es war ein sehr lehrreicher Prozess; vielleicht sollten wir darüber nachdenken, ihn auch zwischen unseren beiden Ländern anzustoßen.
F: In Ihrer Rede vor der Knesset, 2008, erklärten Sie: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“ Was bedeutet es ganz konkret, und was wird passieren, wenn eines Tages Frau Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist?
A: Die Sicherheit Israels war und ist jedem deutschen Bundeskanzler ein wichtiges Anliegen – und das wird auch in der Zukunft so sein. Meine Aussage ist sehr umfassend zu verstehen. Oft ist sie auf die militärische Komponente reduziert worden, aber sie bezieht sich auf ein ganz grundsätzliches Eintreten für die Sicherheit Israels. Wir sind schlichtweg nicht neutral. Ich arbeite dafür, um auch die nachwachsenden jüngeren Generationen mit diesem Verständnis vertraut zu machen.
F: hat es aber auch eine militärische Komponente?
A: Es geht um die Sicherheit Israels insgesamt. Das lässt sich nicht auf einen Bereich reduzieren, es ist aber auch keiner ausgenommen.
F: Manche israelische Politiker verglichen das Wiener Abkommen mit dem Iran mit dem Münchner Abkommen von 1938. Fühlen Sie sich dadurch beleidigt oder haben Sie Verständnis für solche Kritik, und wie können Sie die Sorgen der Israelis gegenüber einem regional verstärkten Iran, der noch immer offiziell vom Verschwinden Israels spricht, beruhigen?
A: Die Haltung des Iran gegenüber Israel ist nicht akzeptabel. Das werden wir immer wieder klar und deutlich sagen. Die entscheidende Frage für uns war, ob es der Sicherheit der Region mehr dient, dieses Abkommen abzuschließen als kein Abkommen zu haben. Hier gibt es unterschiedliche Beurteilungen. Die nuklearen Fähigkeiten Irans haben seit 2005 stark zugenommen. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass diese Entwicklung jetzt für eine relativ lange Zeit gestoppt werden kann. Deshalb erscheint uns das besser als jetzt dieses Abkommen nicht zu schließen und die nukleare Entwicklung Irans weiter zuzulassen. Ich teile Israels Sensibilität bei diesem Thema und sein Misstrauen gegenüber dem Iran, schließlich ist Israel direkt bedroht, aber eigentlich sind wir alle, die freie Welt, von einer Nuklearbewaffnung des Iran bedroht. Dennoch komme ich bei dem jetzt beschlossenen Abkommen zu einer anderen Einschätzung als der israelische Premierminister. Ich wünsche mir, dass wir über die Vor- und Nachteile des Abkommens weiter miteinander sprechen. Auch wenn ich, wie andere Partner, zu der Überzeugung gekommen bin, dass seine Vorteile die Nachteile überwiegen, so übersehe ich doch auch kritische Aspekte daran nicht. Wir haben keine absolute Gewissheit, dass der Iran in der Zukunft wirklich einen transparenten Weg geht. Sollte er aber gegen das Abkommen verstoßen, sieht das Abkommen vor, dass wir die Sanktionen wieder in Kraft setzen können.
F: Sehen Sie irgendeine Möglichkeit, dass Deutschland eine Brücke zwischen dem Iran und Israel sein könnte?
A: Der Iran muss seine inakzeptable Haltung gegenüber Israel verändern. Ich hoffe, eines Tages werden auch in Teheran Politiker regieren, die zu dieser Überzeugung gelangen. Bis dahin sehe ich es als Pflicht der Bundesregierung, diese Forderung immer wieder zu erheben. Darüber hinaus möchte ich die deutsche Rolle und die deutschen Möglichkeiten auch nicht überbewerten und – wichtiger noch – wir sind wie schon gesagt nicht neutral.
F: Hunderttausende Flüchtlinge stürmen aus dem Nahen Osten nach Europa, vor allem nach Deutschland. Sie wollen die Wurzeln dieses Problems bekämpfen. Heißt es auch militärische Interventionen?
A: Was Syrien betrifft, heißt es vor allem, dass ein politischer Rahmen für eine Lösung gefunden werden muss. Wir haben immer wieder erlebt, dass militärische Interventionen ohne flankierendes politisches Konzept nicht zum Erfolg führen. Für ein solches politisches Konzept brauchen wir alle regionalen Kräfte, dazu die USA und Russland. Deutschland wird sich im Rahmen seiner Möglichkeiten einbringen. Wir haben im Kampf gegen den IS zur Unterstützung der kurdischen Peschmerga zum ersten Mal Waffen in einen laufenden Konflikt geliefert. Außerdem bilden wir im Irak Kämpfer gegen den IS aus. Wir sind also bereits militärisch an der großen Koalition gegen die Terroristen des IS beteiligt.
F: Was sagen Sie an diejenigen – auch in Israel, die durch dieser massiven Flüchtlingswelle eine Islamisierung Deutschlands und Europas fürchten?
A: In Deutschland sehen wir in diesen Flüchtlingen in allererster Linie Menschen, die den Schrecken des syrischen Bürgerkriegs entkommen sind. Ihnen Schutz zu geben, ist eine Pflicht, die uns das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention aufgeben. Im Übrigen herrscht in Deutschland Glaubensfreiheit. Wir werden alles daran setzen, diejenigen, die bei uns bleiben dürfen, zu integrieren – in unser Land, in unsere Verfassung, in unseren Rechtsstaat mit seinen freiheitlichen Werten. Sie sollen so schnell wie möglich unsere Sprache lernen, davon hängt alles Weitere ab. Jeder Form von religiösem Fundamentalismus werden wir entschieden entgegentreten.
F: Sie sind die populärste ausländische Politikerin/Staatsfrau in Israel. Kein deutscher oder europäischer Politiker hatte so viel Vertrauen in Israel genossen. Wie erklären Sie es und was bedeutet es Ihnen persönlich?
A: Ich freue mich einfach über gute und herzliche Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Ich arbeite entsprechend meinem Amtseid zum Wohle des deutschen Volkes, und ich füge hinzu, ich arbeite auch für ein starkes Europa. Was Israel betrifft, gibt es vieles, worin wir mit der Regierung und den Menschen in Israel übereinstimmen. Es gibt aber auch Punkte des Dissenses. Wir haben es immer geschafft, solche Meinungsunterschiede auch auszutragen, ohne dem Fundament unserer Beziehung Schaden zuzufügen.
F: Vor einem Jahr haben israelische Protestaktivisten an Sie appelliert, die Türe Deutschlands vor Hunderttausenden Immigranten aus Israel zu öffnen, weil das Leben in Israel – im Vergleich mit Deutschland, so teuer ist. Haben Sie davon gehört, und was denken Sie über diese Initiative?
A: Ich bin dankbar dafür, dass es heute wieder ein so vielfältiges und reiches jüdisches Leben in Deutschland gibt. Mir ist sehr bewusst, dass das vor dem Hintergrund unserer Geschichte nicht selbstverständlich ist. Ebenso freue ich mich über die vielen Israelis, die Deutschland besuchen, gerade hier in Berlin begegnet man so vielen jungen Menschen aus Ihrem Land, die sich von der deutschen Hauptstadt angezogen fühlen. Ich wünsche mir auch umgekehrt, dass sich junge Deutsche für Israel interessieren.
Quelle: Yedioth Ahronot
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